Aus dem umfangreichen Werk Gerhart Hauptmanns wird im Deutschunterricht fast nur noch eines der Dramen Der Biberpelz, Die Ratten oder Die Weber behandelt, sowie die Novelle Bahnwärter Thiel. Auf diese Werke sind die bekannten Verlage eingestellt, die kommentierte Ausgaben und Lektürehilfen anbieten, und selbst innerhalb dieses ›Hauptmann-Kanons‹ gibt es ein starkes Gefälle zugunsten des Bahnwärter Thiel, der es mit 3,7 Millionen verkauften Exemplaren immerhin unter die Top Ten seit 1948 in Reclams Universal-Bibliothek gebracht hat (auf Platz 6, noch vor Theodor Storms Schimmelreiter)[1] .
Seit Oktober 2010 erreichten die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V. nun mehrfach Anfragen, aus denen hervorging, daß in Baden-Württemberg Vor Sonnenaufgang für einige Jahre als Pflichtlektüre vorgesehen sei.[2] Drängendstes Problem schienen die Dialektpassagen zu sein, die den Schülern Schwierigkeiten bereiten würden, zumal auch Lehrer mit dem schlesischen Dialekt nicht vertraut seien. Ob es eine Übersetzung oder Hilfen gebe, war denn auch die häufigste Frage.
Die Frage nach der Existenz einer (hochdeutschen) Übersetzung läßt sich leicht beantworten: es gibt keine, wahrscheinlich auch keinen Markt dafür, zumal die Werke Gerhart Hauptmanns bis zum 1. Januar 2017 noch urheberrechtlich geschützt sein werden. Unter dieser Bedingung stünde einer Übersetzung oder kommentierten Ausgabe neben der inhaltlich zu leistenden Arbeit noch die Klärung der Lizenz (und der damit verbundenen Kosten) im Wege.
An dieser Stelle dokumentiere ich – als Hilfe zur Selbsthilfe – die Hinweise, die ich in verschiedenen Antworten gegeben habe.
Zunächst ist festzustellen, daß der größte Teil von Vor Sonnenaufgang gar nicht im Dialekt geschrieben ist. Wenn die Schüler das erst einmal bemerkt haben (oder man es ihnen gesagt hat), ist die Hürde wahrscheinlich schon etwas geringer. Nach Auskunft von Dr. Klaus Hildebrandt, dem 1. Vorsitzenden der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V., hat Hauptmann in den Dialektpassagen des Dramas die gebirgsschlesische Mundart »so gut wiedergegeben, wie es bei Dialekt überhaupt möglich ist«; »als Schlesier, der am Rande des gebirgsschlesischen Dialektgebietes seine Kindheit verbrachte«, könne er das »einigermaßen beurteilen«.
Beim Verstehen des Dialekts gibt es, vereinfacht gesagt, zwei Hürden, deren Unterscheidung helfen könnte: die Lautung und der Wortschatz. Für den schlesischen Wortschatz kommt man um eine Dialektwörterbuch nicht herum; das umfassendste zum Schlesischen dürfte das von Mitzka sein:
- Walther Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. 3 Bde. Berlin 1963–1965
(Nachweis im Gemeinsamen Verbundkatalog: http://gso.gbv.de/DB=2.1/FAM?PPN=177991461)
Dieses Wörterbuch sollte in besser ausgestatteten Universitätsbibliotheken oder Regionalbibliotheken verfügbar sein. Für den größten Teil der Dialektpassagen hilft es allerdings, einige Regeln zu entwickeln, die das Verstehen erleichtern könnten. Zentrale Rolle (wie oft in Dialekten) spielen die Vokale, z.B. ei -> oa (»kein« -> »koan«), allerdings kann auch a als oa auftauchen (»Arme« -> »Oarme«) oder oo als a (»hat« -> »hoot«). Das e kann zu a werden (»betteln« -> »batteln«), das u und ü zu e (»zurecht« -> »zerecht«, »für« -> »fer«), das a zu u (»ja« -> »ju«), das ö zu e (»Löcher« -> »Lecher«), das o zu u und/oder e (»Doktor« -> »Dukter«) und so weiter. Dann gibt es Verschleifungen (oder wie man das nennt): »geben« -> »gahn«, »nichts« -> »nischt«, ferner das auch im Süddeutschen häufige »wir« -> »mir« (oder »mer«). Das alles aufzuzählen, hat jetzt wenig Sinn, entscheidend ist, daß sich mit wenigen Regeln die Anzahl schwieriger Stellen schnell reduzieren läßt.[3]
Manchmal muß man auch einfach wissen, d.h. aus dem Kontext erschließen, was gesagt wird, um es dann im Text wiederzuerkennen (ähnlich wie oft beim Lesen von Handschriften); helfen kann auch, den Text laut zu sprechen. Im übrigen gebe ich gern zu, daß ich keineswegs alles Wort für Wort verstehe, trotz mehrfacher Lektüre; ich habe es trotzdem gewagt, ein gut dreißigseitiges Kapitel zu Vor Sonnenaufgang in meiner Dissertation zu schreiben (Kurzbeschreibung und Inhaltsverzeichnis: http://www.tempelb.de/wp-content/uploads/2011/05/alkohol_und_eugenik_info.pdf). Selbst dies ließe sich aber positiv wenden und den Schülern als Lerneffekt verkaufen: daß man keineswegs jedes Detail verstanden haben muß, um einem Drama folgen zu können.
Es wäre übrigens interessant, einmal zu vergleichen, welche Passagen für das inhaltliche Verständnis und welche für die Charakterisierung von Personen (Stand, Bildung) durch Dialekt und Hochdeutsch wichtig sind; mein Eindruck: die Dialektpassagen sind für das inhaltliche Verständnis gar nicht so entscheidend.
Schließlich einige Literaturhinweise:
Inzwischen gibt es wenigstens ein Buch zur Behandlung von Vor Sonnenaufgang in der Oberstufe:
Annegret Kreutz/Johannes Diekhans (Hgg.): Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang (EinFach Deutsch: Unterrichtsmodell). Paderborn 2009
Laut Inhaltsverzeichnis (http://files.schulbuchzentrum-online.de/onlineanhaenge/files/978-3-14-022445-1_inhalt.pdf [Abruf 2012-02-05]) gibt es einen Abschnitt »3.3 Regieanmerkungen und Sprache« sowie Zusatzmaterial zur Sprache des Naturalismus. Da ich das Buch noch nicht in der Hand hatte, weiß ich nicht, ob dort auf die Problematik des Dialekts eingegangen wird.
Die folgenden drei Aufsätze habe ich als hilfreich für das Verständnis von Vor Sonnenaufgang in Erinnerung, sowohl für Einordnung in Werk und Zeit als auch im Hinblick auf thematische Interpretation:
- Rüdiger Bernhardt: Sieg und Überwindung des Naturalismus. Gerhart Hauptmanns soziales Drama Vor Sonnenaufgang. In: Gerhard Rupp (Hg.): Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Würzburg 1999, S. 117–160
- Thomas Bleitner: Naturalismus und Diskursanalyse. ›Ein sprechendes Zeugnis sektiererischen Fanatismus‹ – Hauptmanns Vor Sonnenaufgang im Diskursfeld der ›Alkoholfrage‹. In: Ders./Joachim Gerdes/Nicole Selmer (Hgg.): Praxisorientierte Literaturtheorie. Annäherungen an Texte der Moderne. Bielefeld 1999, S. 133–156
- Rolf Christian Zimmermann: Hauptmanns Vor Sonnenaufgang: Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie menschlicher Blindheit? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 494–511
Für die Recherche nach weiterer Literatur zu Vor Sonnenaufgang eignet sich die internationale Hauptmann-Bibliographie:
Sigfrid Hoefert: Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns. 3 Bde (Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft 3, 4 u. 12). Berlin 1986–2003
In dieser Bibliographie sind in Band I auch englische Übersetzungen von Vor Sonnenaufgang nachgewiesen. Es ist durchaus vorstellbar – und möglicherweise didaktisch interessant –, für die Übersetzung der im Dialekt gehaltenen Stellen den Umweg über eine englische Übersetzung zu nehmen. Ob das gelingt, hängt von den Englisch-Sprachkenntnissen ab (die im Zweifelsfall bei heutigen Lehrern und selbst Schülern besser als die Kenntnis des schlesischen Dialekts sein dürften), und von der Übersetzung – wenn diese die Dialektpassagen als solche überträgt (z.B. unter Einsatz von Slang oder Scots), verlagert sich das Verständnisproblem nur.
Fußnoten:
[1] Karl-Heinz Fallbacher (Hg.): Die Welt in Gelb. Zur Neugestaltung der Universal-Bibliothek 2012. Stuttgart 2012. URL: http://www.reclam.de/trck/data/media/Die_Welt_in_Gelb.pdf (Abruf 2012-02-05), S. 65.
[2] Daß Vor Sonnenaufgang seit dem Schuljahr 2011/12 Pflichtlektüre »in den Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife und für die erste Klasse der Berufsoberschule (vergleichbar etwa mit der Klasse 12 an beruflichen Gymnasien)« ist, »im Berufskolleg zumindest bis 2014, in der Berufsoberschule wohl noch ein Jahr länger«, findet man nicht in den Lehrplänen, weil die Pflichtlektüre durch Erlaß des Kultusministerium festgelegt wird (freundliche Auskunft von Gerhard Schneider, Landesinstitut für Schulentwicklung, Stuttgart).
[3] Wer dies genauer studieren möchte, vgl. z.B. Karl Weinhold: Ueber deutsche Dialectforschung. Die Laut- und Wortbildung und die Formen der schlesischen Mundart. Mit Rücksicht auf verwantes in deutschen Dialecten. Ein Versuch. Wien 1853. URL: http://books.google.de/books?id=y3cRAAAAMAAJ (Abruf 2012-02-05).